Abschied von der Windel
Beitrag unserer Pikler Pädagogin Claudia Goudemond
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Die Kontrolle der Schließmuskeln oder wie es unter anderem aus dem Pikler Institut heißt:
Abschied von der Windel
Im Pikler Institut wurden und werden bewusst diese Begriffe benutzt und nicht wie es sonst im allgemeinen Sprachgebrauch heißt: „Sauberkeitserziehung“.
Dieses Thema beschäftigt sehr viele Eltern und es gibt häufig einen Austausch darüber in Eltern-Kind-Kursen. Unter anderem wird oft der Druck durch die Öffentlichkeit sowie der näheren Familie genannt. Junge Eltern werden also mit den allgemeinen Denkmustern in der Gesellschaft konfrontiert. Fragen entstehen und werden formuliert, nach dem Wie und wann der richtige Zeitpunkt des Sauberwerdens erreicht sein kann, und ob überhaupt eine Windel zu benutzen sei und wie lange. Die Meinungen und Vorstellungen gehen hier ziemlich auseinander.
Es bedarf einer gewissen Gehirnentwicklung im neuromuskulären, psychomotorischen und kognitiven Bereich, um die Schließmuskeln gut benutzen zu können. Aus diesem Grund hat das Pikler Institut es anders genannt, da sie nicht von einem Training der Schließmuskeln ausgingen, sondern von einem Reifungsprozess des kindlichen Gehirns. Im Buch „Abschied von der Windel“, (auf S. 24) schreiben die Autoren J.Falk und M.Vincze des Weiteren, dass das Zentrum für die Kontrolle dieser Muskelgruppe im Frontalhirn liegt und dieser nicht vor dem dritten Lebensjahr ausgereift ist.
Sie erwähnen in dieser Schriftenreihe auch die Studien von Ernst und Elsa Blum-Sapas(1) die 1946 als erste festgestellt haben, dass ein Kind entsprechend seiner Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sauber wird und nicht etwa durch Konditionierung, wie es auch heute noch oft üblich ist.
Eine andere Studie, die Frau Hauk-Schnabel in ihrem Artikel „Physiologische und psychologische Aspekte der Sauberkeitsentwicklung“ beschreibt, besagt, dass junge Säuglinge wahrscheinlich unwillkürlich, durch proprio-rezeptive Sinneszellen in der Harnröhre sowie Thermo- und Feuchtigkeitsrezeptoren auf der Haut, den Harndrang schon als junger Säugling wahrnehmen. Einige von ihnen geben Laute von sich oder es ist ein Körperzittern beobachtbar. Hier setzt auch die Windelfrei-Methode an.
Einige Eltern verzichten von Anfang an auf die Windel und hören auf die Zeichen des Kindes, wie oben bei Frau Hauk-Schnabel beschrieben, um es dann auf der Toilette abzuhalten. Andere Eltern setzen das Kind, sobald es sitzen kann, auf das Töpfchen und bestätigen es eventuell mit Lob oder Ähnlichem, wie z.B.: Gummibärchen.
Wieder andere lassen dem Kind die Windel und warten auf ein Zeichen, eine Artikulation des Kindes, wann es diese nicht mehr benutzen möchte.
Da fragt man sich nun: „Was ist denn nun die richtige Methode? Gibt es überhaupt eine Methode und ist es sinnvoll einer davon zu folgen?“
Wie wahrscheinlich schon bemerkt, beziehe ich mich in diesem Artikel vorwiegend auf Beobachtungen der Eltern aus den Kursen, den Texten aus der Schriftenreihe des Pikler Instituts, Remo Largo und von Dr. rer. nat. habil. Gabriele Hauk-Schnabel und natürlich habe ich meine eigene Meinung dazu.
In dem Text von Gabriele Hauk-Schnabel: „Physiologische und psychologische Aspekte der Sauberkeitsentwicklung“, schreibt sie zu Beginn:
„Die Entwicklungsaufgabe, Darm und Blase am dafür vorgesehenen Ort kontrolliert zu entleeren, erfolgreich bewältigt zu haben, stärkt bei kompetenter Begleitung durch die Bezugsperson das kindliche Körperbewusstsein und das Vertrauen in die Bewältigung nachfolgender Aufgaben.“
Dieses Zitat zeigt deutlich auf, wie wichtig bei dieser großen Aufgabe die Bezugsperson ist und wie dadurch das Vertrauen des Kindes in seine eigenen Fähigkeiten gestärkt werden kann. Ausserdem wird hier ebenfalls deutlich, dass es eine Entwicklungsaufgabe des Kindes ist, die Blase und den Darm kontrolliert zu benutzten und das geschieht sicherlich nicht von Anfang an, sondern erst, wie oben geschrieben, wenn es die Hirnreifung zulässt.
Überall wo ich etwas über die Schließmuskelkontrolle lese, finde ich stets den Hinweis auf die liebe- und vertrauensvolle Wickelsituation, die Pflegeaktivitäten insgesamt, wie auch den Bezug zu der vertrauten Person des Kindes. So bekommt das Kind durch eine schöne Wickelsituation ein gutes Körpergefühl, eben seines ganzen Körpers und nicht nur Teile seines Körpers. Es erlangt durch die sanfte Berührung und das Angesprochen werden durch die Vertrauensperson ein ganz anderes Empfinden für seinen Körper, als ein Kind welches “nur“ gewickelt wird. Durch dieses bewusstere Körpergefühl kann es seinen Körper auch ganz anders wahrnehmen.
Eine weitere Studie von Remo Largo möchte ich hier erwähnen. Sie ist bei Frau Hauk-Schnabel wie auch in dem Buch „Abschied von der Windel“, zu finden.
Sie schreiben folgendes dazu: „In den von Remo-Largo initiierten Züricher Longitudinalstudien(2) konnte gezeigt werden, dass intensives Sauberkeitstraining keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Blasen- und Darmkontrolle hat. Für das Kind führt diese erzieherische Intervention jedoch zu erheblicher Fremdbestimmung, für den Erwachsenen zu vielerlei unnötigen Konflikten. Remo Largo und seine Mitarbeiter plädieren deshalb dafür, die Eigeninitiative des Kindes zu beachten und diese aktiv zu unterstützen.“Es kann also laut den Studien, die Remo Largo und das Pikler Institut gemacht haben, davon ausgegangen werden, dass die Beziehung zu dem Kind und die Art und Weise, wie ich es anspreche, wie ich es wickele, wie ich es anfasse und halte, eine große Rolle in Bezug auf das Sauberwerden haben.
Frau Hauk-Schnabel schreibt unter anderem auch, dass die neurophysiologische Ausstattung und die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit eine große Rolle spielen. Das bedeutet ja, dass jedes Kind sein eigenes Tempo diesbezüglich hat und es auch hier sinnvoll ist, keine genauen Altersangaben zu benennen.
In „Abschied von der Windel“ kann folgendes nachgelesen werden:
„Erst wenn alle Nervenbahnen und die neuro-anatomischen Zentren ausgereift sind, können Blase und Rektum problemlos willentlich gebraucht werden.“ (S. 24)
Sie schreiben weiter auf der Seite, dass wohl vor diesem Zeitpunkt, durch Training, Reflexe konditioniert werden können, jedoch keine wirkliche Schließmuskelkontrolle erreicht werden kann. Eine echte Kontrolle basiert nur auf das innere Verlangen des Kindes, es wird also ein starkes „Selbst“ des Kindes hierfür benötigt. Dieses entwickelt sich im Alter von zwei bis drei Jahren. Ab dann wird ein Kind autonomer und möchte mehr selbst entscheiden.
Ich glaube, diese Autonomiephase kennen viele Eltern. Genau in dieser Zeit nimmt die Abhängigkeit von den Eltern stark ab. Auch der bewusste Wunsch des Kindes auf die Windel zu verzichten, ist ein weiteres Zeichen, um mehr Unabhängigkeit zu erlangen.
Auf Seite 24 lese ich weiter: „Das Kind betrachtet in diesem Lebensabschnitt die äußere Welt mit wachem Interesse und beschäftigt sich erstmals mit grundlegenden Fragen des Lebens. Harmonisch verläuft dieser Prozess nur dann, wenn die Erwachsenen die Entwicklungsschritte und das Tempo dem Kind selbst überlassen, wenn dessen Beziehungen zu seiner Umwelt und den Erwachsenen – besonders den nahestehenden – stabil sind und nicht gestört werden, etwa mit der fordernden Frage, ob im Topf etwas drin sei. Wer das Kind derart drängt, verlangt von ihm etwas, wozu es von seinem physiologischen Reifezustand her noch nicht in der Lage ist, was noch nicht der Entwicklung des eigenen Selbst und seinen Fähigkeiten entspricht.“
Für mich spricht dieses Zitat etwas Wesentliches aus und mir fallen Fragen dazu ein: wie wir den jungen Menschen betrachten, ob wir ihn etwas lehren müssen oder ob wir in eine wirkliche Beziehung zu ihm treten? Mit wieviel Respekt begegnen wir ihm?
Wie schön nachzulesen, dass wir als Erwachsene Begleitpersonen für das Kind in jeder Entwicklungsphase da sein dürfen und dass jede Phase dadurch wesentlich leichter zu gestalten zu sein scheint. Das Wort Begleitperson beinhaltet für mich auch noch etwas anderes, nämlich eine schöne Form der Leitung zu dem Kind. Dieses Thema darf nicht unterschätzt werden in Bezug auf die Kontrolle der Schließmuskeln. Kinder lernen durch den Erwachsenen und können durch ihn sehen, wie normal der Toilettengang doch ist und alles was dazu gehört.
In den Kursen berichten mir Eltern oft wie sie vorgehen, bzw. welche Signale sie wahrnehmen und wie sie darauf reagieren. Einige Kinder sagen von sich aus: „Ich gehe nun auf die Toilette“ und der Prozess ist manchmal für die Eltern sehr schnell, vielleicht zu schnell, erledigt. Das bedeutet auch, viel Vertrauen zu seinem Kind zu haben.
Eine Mutter hat mir erzählt, dass ihr Kind keine nassen Windeln an ihrem Körper haben wollte. Sie hat lauthals geschrien und wollte direkt gewickelt werden. Zusätzlich hat die Mutter sie nach dem Stillen abgehalten, damit ihr Kind die Bedürfnisse direkt an Ort und Stelle erledigen konnte. Ihr Geschwisterkind hat es anders gewollt. Die Eltern haben es bei ihm erst so gemacht wie bei ihrem großen Kind, doch kam dann ebenfalls Protest. Dieses Kind wollte nicht abgehalten werden, wollte die Windel anbehalten und auch das ist für die Eltern so in Ordnung. Zwei Kinder und zwei unterschiedliche Art und Weisen.
Das eine Kind hat klar formuliert, doch bitte die Windel zu wechseln. Bei anderen Kindern, die es nicht so deutlich mitteilen, ist es sinnvoll, wenn der Erwachsene dem Kind sagt, dass sie nun die Windel wechseln.
Natürlich ist, in diesem Prozess der Schließmuskelkontrolle, auch die Sprache von Bedeutung. So lernen sie die Ausdrücke, die zu diesem Prozess gehören und gleichzeitig lernen sie ihren Körper besser kennen. Mir persönlich ist es ein Anliegen, dem Kind stets von Gesicht zu Gesicht mitzuteilen, was gerade mit ihm geschieht. Damit es auf diese Weise mehr Vertrauen in den Erwachsenen haben kann.
Hier sind ein paar Gedanken, die in mir aufkommen, wenn ich an das Windel-wechseln denke:
Wie würde ich es selbst empfinden, wenn ich auf dem Bauch liege und spielen möchte, und plötzlich nimmt mich jemand von hinten auf und hält mich auf der Toilette ab oder wechselt mir die Windel? Kann ich dabei Vertrauen entwickeln? Wie wirkt sich diese nicht vorher angekündigte Vorgehensweise auf das Selbstbewusstsein des Kindes aus?
Trainings, Konditionierung und eine spezielle Sauberkeitserziehung sind laut dem, was ich in den letzten Jahren so gelesen habe, also kontraindiziert.
Wie sollte es eine Familie denn nun genau machen?
Ich denke, dass jede Familie für sich dafür einen Weg finden wird, in guter Beziehung zum Kind. Hören die Eltern auf ihr Kind und begleiten sie es in seinen Prozessen, wird das Kind genau wissen, wann es Zeit ist, um auf die Windel zu verzichten. Natürlich stellt man das Potti stets so hin, dass das Kind einfach dorthin gelangen kann und es braucht natürlich zu Beginn auch noch unsere Hilfe beim An- und Ausziehen. Dieser Bedarf an Hilfe wird das Kind im Laufe der Zeit selbst verringern, da es ja genau wie die Erwachsenen, autonom sein möchte.
Schlussendlich ist es ja unser Auftrag in der Erziehung oder Begleitung des Kindes, dieses in das Leben zu begleiten, damit es sein Leben autonom leben kann.
Claudia Goudemond
Bewegungs-Pädagogin, Pikler-Pädagogin und Mitarbeiterin der Initiativ Liewensufank.
Aus der Rubrik „Babys und Kleinkinder“ unserer Elternzeitschrift „baby info“ 1/2023
(1) Blum E., Blum-Sapas E.B.: „Vom Sinn und Unsinn der Reinlichkeitsgewöhung“, Monatszeitschrift der Psychatrie und Neurologie. 1946, Bd.112, S. 108-120, 195-227
(2) Largo R., Molinari L. et al: „Does a profound Change in Toilet-Training affect Development of Bowl and Bladder Control?“ Develop. Med. Child Neurol. 1996, 38, S. 1106-1116; Largo R., Jenni O.: Was verstehen wir unter einer kindgerechten Suaberkeitserziehung? Kinderärztliche Praxis 2005, 76, S. 6-10.
Literatur zum Thema
Abschied von der Windel
Judit Falk, Maria Vincze, Pikler Gesellschaft Berlin, 2. Auflage 2014, 47 Seiten, ISBN 978-3-9808431-431
Grundlagen der Entwicklungspsychologie
Gabriele Haug-Schnabel, Joachim Bensel, Verlag Herder, 184 Seiten, 1. Edition (19. Juni 2017), ISBN 978-3451329609.
Physiologische und psychologische Aspekte der Sauberkeitsentwicklung
Gabriele Haug-Schnabel, Kita Fachtexte, frei zugänglich unter https://bit.ly/sauberkeitsentwicklung-liewensufank