Kindliches Verhalten macht Sinn

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– von Handlungen absehen können, um das Kind an sich zu sehen

In diesem Beitrag möchte ich dafür plädieren, einen Moment innezuhalten, um erkennen zu können, welche Absicht ein Kind mit einer Handlung oder einem Verhalten verfolgt. Gerade dann, wenn es ein vermeintlich störendes oder ungewolltes Verhalten ist, welches das Kind gerade an den Tag legt. Dieser kurze Moment kann dazu beitragen, feinfühliger auf Bedürfnisse des Kindes zu reagieren, anstatt voreilige Schlüsse zu ziehen und Strafen, Drohungen oder Konsequenzen auszusprechen. Folgen Sie hierbei Nel Noddings, wenn sie dazu aufruft: „Schreiben Sie Kindern das bestmögliche mit den Tatsachen zu vereinbarende Motiv zu ».

Viele Eltern kennen es: man möchte das Haus verlassen und gerade dann fällt dem Kind allerhand ein, was noch zu erledigen ist. Man bittet ein Kind, aufzuräumen und scheinbar macht es dabei noch mehr Unordnung. Es ist Schlafenszeit, man sieht dem Kind die Müdigkeit an, aber es hält sich krampfhaft wach…das sind Situationen, die Eltern frustrieren können, in denen die Geduld zu Ende geht, man spürt vielleicht Wut aufsteigen. Wollen Kinder ihre Eltern absichtlich ärgern?

Ich vertrete die Ansicht, dass dies nicht der Fall ist. Kinder sind nicht von Natur aus „ungezogen“, „böse“ oder „unartig“ – Wörter, die ich leider sehr oft in Verbindung mit Aussagen über Kinder höre. Kinder leben in einer eigenen Welt, sie sind gerade dabei, sich „unsere“ Welt zu erschließen und machen dabei allerhand Erfahrungen. Sie benötigen dabei Bezugspersonen, die sie mit ihren Gefühlen annehmen und die sie in ihren Gedanken, Ängsten und Bedürfnissen ernst nehmen.

„Den Blick auf die Bedürfnisse der Kinder zu richten und mit ihnen zusammenzuarbeiten, um dafür zu sorgen, dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden, bedeutet, Kinder ernst zu nehmen. Es bedeutet, sie als Menschen zu behandeln, deren Gefühle, Wünsche und Fragen wichtig sind.“
(Kohn 2013, Seite 139)

Kindliches Verhalten ist absichtsvoll

Können Kinder frei ihre Interessen ausleben, dann setzen sie absichtsvolle Handlungen. Sie haben eine Idee und versuchen, diese umzusetzen. Auch wenn sich uns bei manchen Verhaltensweisen oder Handlungen nicht immer gleich der Sinn erschließt – es gibt ihn. Jedes Spiel und jede Beschäftigung, der ein Kind nachgeht, ist für seine Entwicklung bedeutsam. Ist eine Tätigkeit positiv besetzt, dann wird dieser Ansicht auch vollkommen zugestimmt, z.B. wenn einem kleinen Geschwisterkind ein Bilderbuch vorgelesen wird, weil das ältere Kind nachahmt, wie ihm Bücher vorgelesen werden. Oder wenn ein Kind ganz in sich versunken Bausteine nach Größe, Farbe oder Form sortiert. Ganz anders sieht dies aus, wenn Verhaltensweisen gezeigt werden, welche die Mehrheit der Erwachsenen als unerwünscht ansieht, z.B. wenn Geschwister um ein Spielzeug streiten oder Kinder widersprechen, wenn Erwachsene sie um etwas bitten. In solchen Fällen fällt es oftmals schwerer, den Sinn solcher „Szenen“ zu sehen. In diesen Fällen übt ein Kind, sich durchzusetzen, seine Interessen zu vertreten, zu diskutieren oder auch Kompromisse einzugehen – alles Eigenschaften, die wir bei anderen Menschen schätzen, nur scheinbar bei unseren Kindern nicht dulden möchten.

„Selbst wenn es mehr Zeit und Mühe erforderte, Entscheidungen mit Kindern gemeinsam zu treffen, ist es doch eine der besten Arten, wie Eltern ihre Zeit verbringen können. Um dies zu verstehen, müssen wir über die konkrete Angelegenheit, über die wir gerade diskutieren, hinausblicken und uns ins Gedächtnis rufen, dass dieser Prozess einen unermesslichen Nutzen für die soziale, moralische und geistige Entwicklung unserer Kinder bietet.“ (Kohn 2013, Seite 204)

Oder kommen wir nochmals zum eingangs erwähnten Beispiel zurück, dass Kinder scheinbar nicht schlafen wollen, bzw. es Probleme mit dem Einschlafen oder dem nächtlichen Wieder-Einschlafen gibt. Das Grundsätzliche vorneweg: Babys und Kinder können schlafen. Schlafen müssen sie, ebenso wie atmen, nicht lernen. Was wahrscheinlich viele meinen, wenn sie davon sprechen, dass ein Baby schlafen lernen solle, ist, dass es sich mit der Zeit an die Schlafgewohnheiten der Erwachsenen anpassen soll. Um nicht zu weit abzuschweifen, führe ich das in diesem Beitrag nicht weiter aus. Hier geht es mir darum, aufzuzeigen, dass kindliches Verhalten Sinn macht, es also immer einen Grund gibt, warum sich ein Kind auf diese oder jene Weise verhält. Im oben genannten Fall, wenn ein Kind z.B. trotz sichtlicher Müdigkeit nicht einschlafen kann, möchte das Kind vielleicht den Kontakt zu uns nicht abbrechen oder hat noch etwas Wichtiges zu erzählen. Für das Kind ist es wesentlich, dass die Eltern bemüht sind, das Bedürfnis zu erkennen. In vielen Fällen möchten Eltern auf das Bedürfnis vielleicht nicht eingehen in der Sorge, dadurch das Einschlafen noch weiter nach hinten zu verschieben. Ist ein Bedürfnis jedoch befriedigt, schläft ein Kind zumeist rascher ein, als wenn man tausende Tricks ausprobiert, um ein Kind zum Schlafen zu bewegen.

Kinder erproben sich

Kinder benötigen jedoch Raum, um sich in unterschiedlichen sozialen Konstellationen erfahren und erproben zu können. Dabei stoße ich immer wieder auf das Phänomen, dass Eltern mir berichten, wie „brav“ und „angepasst“ ihr Kind an anderen Orten (z.B. in der Schule, im Verein, usw.) wäre. Scheinbar haben nur sie als Familie ein Problem. An dieser Stelle möchte ich nur eine Frage stellen: Wo würden Sie sich lieber erproben und neue Verhaltensweisen üben oder noch ungewohnte Strategien einsetzen? Im Kreise der Familie, wo man sich (hoffentlich) sicher sein kann, geliebt und aufgefangen zu werden, wenn etwas misslingt? Oder lieber an einem Ort, an dem oftmals nur lose und funktionale Beziehungen (z.B. LehrerIn-SchülerIn-Verhältnis) herrschen und man sich vielleicht nicht sicher sein kann, dass man noch einen Platz hat, wenn etwas schiefläuft?

Auf der anderen Seite werden Eltern auch damit konfrontiert, dass ihr Kind eben nicht „angepasst“ und „brav“ ist, sondern vielleicht andere Kinder schlägt, beißt oder laut und widerspenstig ist. Oftmals löst das bei Eltern Schuldgefühle aus, weil sie den Eindruck haben, sie könnten ihr Kind nicht richtig erziehen. Oder sie haben Angst, aufgrund des Verhaltens des Kindes soziale Ausgrenzung zu erfahren. Dieser Sichtweise liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Mensch verantwortlich für die Handlungen, Gefühle und Verhaltensweisen eines anderen Menschen wäre. Eltern können aber nicht bestimmen, wie ein Kind sich fühlt, wie es diesem Gefühl Ausdruck verleiht und wie es mit Reaktionen von anderen auf diese Ausdrucksweise zurechtkommt.

Perspektivenübernahme erleichtert das Zusammenleben

Das Zusammenleben mit Anderen stellt uns immer wieder vor Herausforderungen, das gilt auch für die Erziehung unserer Kinder. Haben wir jedoch ein grundlegendes Vertrauen in unser Kind, in seine Entwicklung und seine Fähigkeiten, dann sind wir oftmals auch feinfühliger und schaffen es leichter, von den Handlungen oder dem Verhalten des Kindes abzusehen und das Kind an sich wahrzunehmen.

„Durch Perspektivenübernahme bekommen wir Informationen, die uns helfen können, mehr in die Tiefe zu gehen, statt nur auf das Verhalten des Kindes zu reagieren. Auf diese Weise können wir eine Strategie entwickeln, um die zugrunde liegenden Schwierigkeiten anzugehen. Perspektivenübernahme macht uns geduldiger gegenüber den Launen von Kindern.“ (Kohn 2013, Seite 238)

Manchmal ist es schwierig, solche Ideen umzusetzen oder „durchzuhalten“. Keiner, auch nicht Ihr Kind, erwartet, dass Sie als Eltern perfekt sind. Jeder hat gute und schlechte Tage und schafft es mal besser und mal schlechter sich auf andere Personen einzulassen.

„Nur wenige Eltern verwenden Methoden, bei denen das Kind ausschließlich als Objekt behandelt oder stets mit ihm gemeinsam Lösungen gesucht werden und nur bei wenigen Eltern ist die Liebe immer an Bedingungen geknüpft oder immer frei von Bedingungen. Die meisten von uns sind irgendwo in der Mitte zu finden.“ (Kohn 2013, Seite 243)

Lieben Sie Ihr Kind bedingungslos

Bedingungslose Liebe meint, das Kind zu lieben, unabhängig davon, was es gerade macht oder sagt. Zugegeben, wenn es gerade die Tapete bemalt oder den Lack des neuen Autos zerkratzt, dann kann das schon mal schwer fallen. Besteht zwischen Bezugsperson und Kind eine sichere Bindung, dann ermöglicht diese, von der Handlung Abstand zu nehmen und die Absicht des Kindes zu erkennen. Vielleicht hat Ihr Kind mitbekommen, dass Sie überlegen, die Wände neu zu streichen, weil Ihnen die alte Tapete nicht mehr gefällt? Ihr Kind wollte Ihnen mit seiner Aktion einen Gefallen erweisen. Oder Ihr Kind malt gerade gerne und sieht, dass Sie seine Zeichnungen immer an die Wand hängen. Es hat sich dazu entschlossen, einfach direkt dort zu malen. Beim Beispiel mit dem Auto könnte es die kindliche Neugierde sein: Was geschieht, wenn man mit dem Schlüssel die Autotüre entlang fährt? Nachdem es gesehen und gehört hat, dass es dort wirkungsvoll ist (man sieht seine Bewegungen und hört das Kratzen auf dem Metall), war es ganz versunken im Spiel und dachte möglicherweise gar nicht mehr an die Konsequenz, dass das Auto davon Schaden nimmt. Je nach Alter des Kindes kann es diese Konsequenz (in vollem Umfang) noch gar nicht als solche erkennen.

Denken Sie jetzt bitte nicht, dass ich die hier beschriebenen Aktionen gutheiße oder mich freuen würde, wenn meine Kinder dies machen würden. Das Kind muss schon erfahren, dass es in Zukunft solche Handlungen unterlassen solle. Aber es kommt auf die Art und Weise an, wie das Kind darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass das Verhalten oder die Tat in dieser Weise oder an diesem Ort nicht erwünscht ist. Das Kind muss sich sicher sein können, dass die Beziehung zu den Eltern bestehen bleibt und es immer noch geliebt wird. Die Botschaft lautet: „Du bist okay, so wie du bist“. Erfährt das Kind, dass es als Person weiterhin geliebt wird, wird es auch in Zukunft Missgeschicke und Probleme offen besprechen und nicht, aus Angst vor Strafe und Liebesentzug, versuchen. seine Taten zu verstecken. Die Beziehung zum Kind kann so vertieft werden.

„Einen zerbrochenen Teller kann man durch einen neuen ersetzen; zerbrochene Seelen können Narben zurückbehalten. Schmutz kann man aufwischen und etwas Beschädigtes kann man reparieren; das Gefühl Ihres Kindes, von Ihnen geliebt zu werden, beruht auf seinem Wissen, dass es selbst wichtiger ist als Dinge und Zeitpläne.“ (Aldort 2010, Seite 63)

Kinder entwickeln auch ein Unrechtsbewusstsein und sind oft traurig, wenn sie sehen, welche Konsequenz ihre Handlung hatte. Gerade in diesen Momenten brauchen sie Zuspruch, müssen mit ihren Gefühlen angenommen werden und nicht noch fürchten müssen, nicht mehr geliebt zu werden.

Lässt man sich auf einen gemeinsamen Weg mit dem Kind ein, lässt man zu, sich vom Kind immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen. Kann man noch über vermeintliche Kleinigkeiten staunen, so hilft diese Haltung, die Beziehung zum Kind zu vertiefen.

Fangen Sie noch heute an, genau hinzusehen, hinzuhören und mitzufühlen – denn kindliches Verhalten macht immer Sinn!

Julia Strohmer
Pädagogin – www.erziehungsfragen.lu

Ein Artikel, der in der Elternzeitschrift „baby info“ veröffentlicht wurde (nr 4/2016)